Sorry, this entry is only available in German. For the sake of viewer convenience, the content is shown below in the alternative language. You may click the link to switch the active language.

Durch den Zwischenfall beim Soyuz-MS-10-Flug, der unsere Kollegen Alexey Ovchinin und Nick Hague im Oktober zur ISS hätte bringen sollen, werden Serena, Sergey und ich nun noch einige Wochen länger als geplant nur zu dritt hier im All sein: voraussichtlich bis zum 3. Dezember, bis die nächste Crew zu uns hinzustößt.

Die aktuelle Crew (Expedition 57) der Internationalen Raumstation ISS. Bild: ESA/NASA

Natürlich hatten wir uns auf die beiden gefreut, wir hatten sogar schon ihre Schlafkabinen vorbereitet und ihnen am Tag des Starts Orangensaft in den Kühlschrank gestellt.

Es ist schade, dass unsere Freunde nicht bei uns sind. Doch geschockt sind wir nicht. Jedem von uns war von Anfang an immer klar, dass solche Anomalien auftreten können. Wir trainieren für Szenarien, die noch weit schlimmer sind. Und man muss sagen: Es ist beeindruckend zu sehen, wie gut das Rettungssystem funktioniert und was das Raumschiff geleistet hat. Die Soyuz ist so genial konstruiert, dass sie selbst in solch einem kritischen Fall noch die Mannschaft retten konnte. Die beiden sind nur mit kleinsten Blessuren am Boden angekommen. Die mehr als 1000 Search- und Rescue-Experten, die bei jedem astronautischen Raketenstart von Baikonur aus unterhalb der tausende Kilometer langen Start-Trajektorie stationiert sind, haben sie sicher geborgen: Das zeigt, wie die internationale Teamarbeit in der Raumfahrt funktioniert, wenn es darauf ankommt. Deshalb gehen wir aus solch einem Tag gestärkt hervor, nicht geschwächt.

Auch wir drei hier oben auf der Station sehen unsere neue Situation vor allem als positive Herausforderung. Es kommt auf die Einstellung an! Vermutlich werden wir jetzt nicht alle Experimente durchführen können, die für die ISS-Expedition-57 geplant waren. Auch die Außenbordeinsätze haben wir erstmal verschieben müssen.

 

 

NASA-Astronautin Serena Auñón-Chancellor und ESA-Astronaut Alexander Gerst beim Andocken des Cygnus „S.S. John Young“ Raumfrachters. Credits: ESA/NASA.

Aber wir kommen schon klar, und wir sind gut versorgt. So ähnlich, wie es mich immer wieder gereizt hat, in lebensfeindliche Räume hinaus zu reisen und ihnen zu trotzen (ob in der Antarktis, am Rand von Vulkanen oder im All), sagen wir drei uns nun auch: Wir haben schwierige Bedingungen, aber wir machen das Beste daraus – jetzt erst recht. Und am Ende werden wir dann auch mit Stolz darauf zurückschauen können, was wir geschafft haben.

Das Wichtigste ist, dass wir uns jetzt nicht hängen lassen, dass keiner lethargisch wird oder sich überfordert. Deshalb achten wir mehr aufeinander und unternehmen auch mehr zusammen: Zum Beispiel essen wir jetzt immer abends, oftmals auch mittags, zu dritt. Jeden Samstag schauen wir am Abend zusammen noch ein Film auf unserer Projektorleinwand im “Knoten 2“, jeder darf sich reihum einen Film aussuchen. Neulich zum Beispiel habe ich einen Zweiteiler über die “Endurance“-Expedition unter der Leitung von Ernest Shackleton in der Antarktis gezeigt: Es tut gut zu sehen, wie andere Entdecker noch viel schwierigere Situationen im Unbekannten gemeistert haben.

Serena Auñón-Chancellor (rechts) machte dieses Selfie mit Sergey Prokopyev und Alexander Gerst beim Abendessen im Swesda-Modul, das zum russischen Segment der Internationalen Raumstation gehört. Credit: NASA/ESA.

Serena Auñón-Chancellor (rechts) machte dieses Selfie mit Sergey Prokopyev und Alexander Gerst beim Abendessen im Swesda-Modul, das zum russischen Segment der Internationalen Raumstation gehört. Credit: NASA/ESA.

Tagsüber lassen wir in den Forschungsmodulen stets Kameras laufen, damit die Bodenkontrolle mehr Anteil an unserer Arbeit nehmen kann und wir aufmerksam bleiben. Und im Gegenzug habe ich unser Kontrollzentrum gebeten, uns ein Livebild des Kontrollraums auf einen unserer Laptops zu streamen. Mit den Experimenten kommen wir dabei erstaunlich gut weiter, wir hinken kaum hinterher. Und die Stimmung ist ruhiger, aber eigentlich sogar besser als vorher. In gewissem Sinne hilft uns die Sondersituation eben auch, uns zu motivieren: Jetzt kommt es auf jeden von uns voll an, niemand kann sich zurückziehen.

Das zelebrieren wir manchmal richtig. Zum Beispiel hat jeder von uns ja einige so genannte Bonus-Essenscontainer hier oben, für die sie oder er den Inhalt persönlich aussuchen durfte. Normalerweise isst jedes Crew-Mitglied diese Sachen zum Großteil allein. Jetzt aber teilen wir immer alles, und jeder von uns schwebt mal zwischendurch bei den anderen vorbei, um ihnen ein Extrastück Schokolade oder einen Cappuccino zu bringen.

Kosmischer Haarschnitt für Roskosmos-Kosmonaut Sergei Prokopyev. Credits: ESA/NASA

Ich finde, ich habe riesiges Glück, eine Crew mit so einer tollen Einstellung hier zu haben! Als Kommandant achte ich natürlich jetzt ganz besonders darauf, dass alles so gut läuft wie möglich, sowohl die Experimente, als auch unser Zusammenleben im Weltraumalltag. Dafür muss ich mehr Zeit aufbringen als vorher. Ich spreche mich regelmäßig mit meinem Flugdirektor am Boden über die Aufgaben ab, mache abends noch Überstunden, zum Beispiel um aufzuräumen, Dinge zu organisieren oder für Reparaturen.

Aber ich mache sie gern. Wie der Leiter einer Polarexpedition bin ich als Commander eben dafür verantwortlich, stets den Überblick zu bewahren ­– und dafür auch mal eins fürs Team einzustecken.

Uns steht noch viel Arbeit bevor. Jetzt kamen mehrere Raumtransporter an, die wir einfangen, ausräumen und wieder beladen mussten. Und das Ende unserer Mission, wenn die nächste Crew ankommt, wird mit Sicherheit richtig dynamisch.

Zahllose Tricks, um im Alltag hier auf der Raumstation gut zurechtzukommen, sind nirgendwo niedergeschrieben. Sie werden von Mannschaft zu Mannschaft weitergegeben: wie man den Müll am besten einpackt, seinen Schlafsack festzurrt, zur Toilette geht, sich wäscht, wie man einen Raumanzug in der Schwerelosigkeit anzieht, welche Schraube mal klemmt, wie man 20 schwebende Werkzeuge gleichzeitig bändigt, welche Schalter man mit besonderer Vorsicht behandeln muss, wie man einen Sonnenaufgang fotografiert, welche Ecken der Erde besonders fotogen sind.

 

Creativity of Mother Nature

Man kann sich die ISS wie ein großes Haus vorstellen, mit vielen technischen Eigenheiten und Systemen, bei denen es natürlich auch manchmal hakt. Wer lange darin gelebt hat, weiß ganz genau, wie man es bedient und wie man viele knifflige Situationen löst. Doch wer neu einzieht, hat keine Ahnung von diesen Eigenheiten – und kann sich darauf im Vorfeld auch nicht vorbereiten.

Es gibt tausend kleine Ideen, mit denen irgendeine Crew auf der ISS irgendwann einmal ein Problem gelöst hat. Doch all dies aufzuschreiben, wäre unmöglich. Es ist eine Weltraum-Lebenskultur, die sich über Jahre entwickelt hat.

Normalerweise bleiben bei einer Übergabe mindestens zwei Monate, um all diese Kniffe der nächsten Crew zu erklären: Wir aber werden dafür jetzt nur zwei Wochen Zeit haben, während die Neuen sich gleichzeitig auch noch an die Herausforderungen des Weltraums gewöhnen müssen.

Serena, Sergey und ich sind derzeit die einzigen Träger der ISS-Kultur im Weltraum. Was wir vergessen, in dieser extrem kurzen Zeit unseren Nachfolgern zu erzählen, wird als Wissen womöglich für immer verloren gehen. Das ist eine große Verantwortung, die da auf uns lastet!

Meine beiden Kollegen Sergey und Serena, die ja zum ersten Mal auf der ISS sind, kennen diese Situation noch nicht; und es ist toll zu sehen, wie sie diese Herausforderung jetzt schon annehmen und sich darauf vorbereiten, den Neuen zu helfen.

Noch gleicht die Zeit hier der Ruhe vor dem Sturm. Aber auch das ist vielleicht eine gute Erkenntnis aus dem Soyuz-MS-10-Zwischenfall: Er hat allen wieder bewusst gemacht, dass astronautische Raumfahrtmissionen keine Routine-Veranstaltungen sind. Wir arbeiten an den Grenzen des technisch Machbaren, um diese weiter nach außen zu tragen. Unsere Missionen sind mit Herausforderungen gespickt, die wir zum Wohle der Menschheit konzentriert angehen müssen. Auch wenn sie nicht einfach sind – oder besser, wie John F. Kennedy es zum Auftakt des Mond-Programms formuliert hat, – gerade weil sie nicht einfach sind, sondern schwierig.

Das Horizons-Logbuch ist eine Kooperation zwischen der Europäischen Weltraumorgansation ESA und GEO.de