Jeder Astronaut weiß, dass wir uns auf der Raumstation – umgeben vom kosmischen Vakuum – ständig in einer potenziell lebensgefährlichen Situation befinden: Zugleich aber fühlen wir uns hier oben relativ sicher, verglichen mit unserer lebensfeindlichen Umgebung.
Es gibt zahllose Vorkehrungen auf der ISS, um Gefahrenquellen zu minimieren. Wir haben tausende Stunden lang trainiert, um mit Notfällen richtig umzugehen. Und im Alltag sind wir oft so sehr in die Arbeit an unseren wissenschaftlichen Experimenten vertieft – da vergisst man schon mal für eine Weile, dass wir nicht durch ein Forschungslabor auf der Erde, sondern im Kosmos schweben.
In manchen Momenten aber wird uns die Ausgesetztheit hier oben doch schlagartig wieder vor Augen geführt. Vor vier Wochen zum Beispiel, als die Bodenkontrolle uns morgens früh nach dem Aufstehen per Funk informierte, dass wir ein Leck haben.
In der Station sank der Luftdruck zunächst über Tage hinweg sehr langsam, dann immer schneller – zum Glück selbst dann immer noch so langsam, dass die Luftreserven noch vier Tage lang gereicht hätten. Aber in solchen Situationen zahlt sich das lange Notfalltraining dann wirklich aus: Wir haben im Kopf sofort umgeschaltet und gemeinsam mit unseren Flugkontrolleuren in Moskau, Houston und Oberpfaffenhofen die undichte Stelle schnell aufgespürt. Im Orbital-Modul unserer an die ISS angedockten Soyuz-Kapsel, das beim Rückflug zur Erde abgesprengt wird und verglüht, war ein Loch von rund drei Millimetern Durchmesser in der Außenwand – zum Glück an einer Stelle, die für uns zugänglich war.
Wir haben das Leck dann versiegelt – erstmal mit dem Finger, dann mit Klebeband, später permanent mit einem Pfropfen aus Teilen einer Mullbinde und Epoxidharz. Damit werden wir weiter arbeiten können und am Ende unserer Mission auch sicher zur Erde zurückfliegen. Im Moment wird noch untersucht, wie das Loch im Startvorbereitungsprozess des Raumschiffes genau entstanden ist.
Für uns ist jedoch das Wichtige: alles unter Kontrolle.
Unsere Vorbereitung hat sich bewährt. Risikoforscher sagen ja oft, dass wir Menschen unter Zeitdruck nicht gut darin sind, komplexe, mit vielen Unwägbarkeiten verbundene Gefahrensituationen rational zu durchdenken. Wir überblicken sie nicht. Und unser Gehirn kann nur eine begrenzte Anzahl von Eindrücken gleichzeitig verarbeiten.
Alles, was man nicht vorher trainiert hat, geht als separate Belastung ein. Wie beim Autofahren zum Beispiel: Da muss man einsteigen, sich anschnallen, Schulterblick, Kupplung treten, navigieren, dem Beifahrer zuhören; und vielleicht ist gleichzeitig auch noch das Radio an. All diese Dinge verstopfen das Aufnahmevermögen, wenn wir über sie getrennt nachdenken müssen. Das kann vermutlich jeder Autofahrer aus seiner Zeit als Fahranfänger nachvollziehen.
In Stress-Situationen sinkt unsere Wahrnehmungskapazität weiter ab. Das kenne ich von Situationen einiger meiner Kollegen beim Fallschirmspringen. Im Extremfall kann es passieren, dass man nur noch einen einzigen Eindruck verarbeiten kann, was bereits zu einigen Unfällen geführt hat: Man sieht nur noch den Boden, der immer näher kommt, ohne dass man mehr darüber nachdenken kann, was als nächstes zu tun ist. Man wird handlungsunfähig. Solch einen „Tunnelblick“ müssen wir Astronauten hier auf der Raumstation natürlich unbedingt vermeiden.
Deshalb gibt es so viele Prozeduren, an denen man sich in Notfällen orientieren kann. Und deshalb trainieren wir so lange, dass viele Handgriffe zur Routine werden und unseren Kopf nicht belasten. Wir können dann auf bekannte Muster zurückreifen. So werden Wahrnehmungskapazitäten frei, die wir brauchen, wenn es drauf ankommt.
In der Realität ist dann natürlich oft alles ganz anders. Viele Situationen sind derart verfahren und knifflig, dass kein Handlungsprotokoll uns komplett dort hindurchleiten könnte. Genau in diesem Fall ist es wichtig, dass wir den Gesamtüberblick bewahren und ergänzend auch unser Bauchgefühl einsetzen, das wir aus der Erfahrung heraus entwickelt haben.
Solche Momente sind die schwersten für einen Commander, denn er muss in kürzester Zeit und unter Stress entscheiden, wann man von den Prozeduren abweichen muss – und wann man besser zu ihnen zurückkehren sollte. Besonders tückisch ist dabei der sogenannte „Flash of Brilliance“, ein vermeintlich brillianter, spontaner Einfall, um einen Notfallplan anders als geplant durchzuführen. Jedoch ist das Risiko groß, dass eine auf den ersten Blick großartige Idee später in eine gefährliche Falle führen kann.
Die Kunst der Führung in einer Notfallsituation ist deshalb für den Commander, die Hast aus einer Situation zu nehmen, Ruhe auszustrahlen, um mit Information und Intuition die richtige Entscheidung zu treffen – oder sofort zu handeln, wenn es die Situation erfordert.
Wie wichtig das ist, habe ich schon früher erlebt, als ich in meinem Heimatort Künzelsau bei der freiwilligen Feuerwehr war. Da bekommt man eine Intuition dafür, wo versteckte Gefahren lauern könnten. Davon profitiere ich heute auch auf der Raumstation: Im Zweifel greift man sich doch noch mal eine Atemschutzmaske extra, oder stellt doppelt sicher, dass es keine Missverständnisse innerhalb der Crew gibt.
Manche Risiken bleiben trotz aller Vorbereitung bestehen. Aber man muss sich auch eingestehen: Zur Entdeckung des Unbekannten gehört das dazu. Der US-Unternehmer und Philanthrop John Shedd hat das Anfang des 20. Jahrhunderts einmal sehr gut auf den Punkt gebracht, finde ich, als er sagte: „Für Schiffe ist es am sichersten, im Hafen zu bleiben. Dafür sind aber Schiffe nicht gemacht.“ Und von T.S. Eliot stammt das Zitat, dass nur diejenigen, die das Risiko eingehen, zu weit zu gehen, in der Lage sind, herauszufinden wie weit sie gehen können.
Wenn wir nicht bereit sind, einige Unwägbarkeiten einzugehen, kommen wir im Leben, und auch in der Raumfahrt nirgendwo hin. Und auch wenn man persönliche und globale Risiken natürlich nicht wirklich gegeneinander abwägen kann, lägen die größten Gefahren für die Menschheit letztlich darin, überhaupt nichts zu tun. Wenn wir das Weltall um uns herum nicht erforschen, werden wir uns vor den Risiken, die uns zum Beispiel durch Meteoriteneinschläge oder Weltraumstrahlung drohen, nie wappnen können. Und ohne den Blick von außen auf unsere Erde durch Satelliten hätten wir so globale, „innere“ Bedrohungen unseres Daseins wie etwa den Klimawandel niemals entdeckt.
Ich selbst habe mit mich den Risiken, die mit meiner Mission hier im All verbunden sind, lange befasst und beschlossen: Ich nehme sie in Kauf.
Nicht alles hier oben ist cool und spaßig. Ein Leben im All, selbst auf einer großen Raumstation, ist voll von Entbehrungen. Aber ich mache die Arbeit gern, weil ich weiß: Sie füllt mein Leben mit Sinn. Sie hilft mir, die großen Fragen für mich zu klären, die sich wohl jeder irgendwann einmal stellt: Was ist mein Platz im Leben, in dieser Welt? Was gebe ich von dem, das ich mitbekommen habe, an die Gesellschaft zurück?
Ich hatte viel Glück, eine schöne, sichere Kindheit in Deutschland, eine tolle Familie, viele Wahlmöglichkeiten, ich musste nie Hunger leiden. Und ich finde, dass daraus auch eine Verantwortung entsteht, etwas dafür zu tun, dass andere Menschen, in unserem und auch in anderen Ländern, denen es nicht so gut geht, auch ein besseres Leben führen können.
Als Astronaut kann ich dazu beitragen, dass wir Krankheiten besser heilen, unsere Erde besser verstehen, sie schützen, bessere Werkstoffe entwickeln, die nächste Forscher-Generation inspirieren. Das macht es leicht, hier im All zu sein. So wie ich mich schon auf Forschungsmissionen in der Antarktis und auf Vulkanen gefühlt habe, so bin ich mir auch hier im All sehr sicher über eine Sache: Hier oben habe ich meinen Platz in der Welt gefunden. Zumindest bis zur nächsten Gelegenheit, die Welt über meinen Horizont hinaus zu erkunden.
Das Horizons-Logbuch ist eine Kooperation zwischen der Europäischen Weltraumorgansation ESA und GEO.de
Discussion: 21 comments
Bonjour Monsieur Gerst
C’est un témoignage très intéressant. Merci
Meilleures salutations
Faby
Danke, lieber Alexander Gerst!
Ihre Berichte und Fotos sind immer wieder faszinierend, und in Gedanken fliege ich so manches Mal mit in der kleinen Kapsel und durchlebe Ihre Abenteuer mit, die Sie hier beschreiben.
Bei all den derzeitigen Naturkatastrophen hier auf dem Erdball faellt es fast schon schwer zu glauben, dass es moeglich bleibt, die Weltraumprogramme zu steuern. Und so ist es mein tiefster Wunsch, dass Sie und all Ihre mutigen Kollegen heil, unversehrt und gluecklich wieder auf die Erde zurueckkehren.
Ihnen allen ein herzliches Dankeschoen fuer das, was Sie fuer uns alle tun.
(P.S.: meine kleine Dankesbotschaft erreicht Sie bezeichnenderweise aus dem Sterntalerweg!!!)
Danke, Alexander! im Zug sitzend Hast Du mich zu Tränen gerührt! Winke von diesem wunderschönen Planeten in den Himmel und wünsche mir, dass ich meinen Kindern genau diesen, deinen Blick auf die Welt mitgeben kann.
Toll geschrieben. Danke für die Arbeit und die Vermittlung von Werten, Zielen und dem, was im Leben wichtig ist.
Sehr interessanter Blogartikel mit beeindruckenden Bildern. Hoffen wir, dass nie eine Notfallsituation eintreten wird.
Wo wir aber gerade bei Bildern waren, wäre es möglich mir ein Bild von der ISS aus mit Nordlichtern für unseren Blog zur Verfügung zu stellen? Ich würde das gerne in unsere Nordlichtartikel mit einbauen, natürlich mit Nennung der Quelle usw. Eine Frage via Twitter wurde mir leider nicht beantwortet.
Viele Grüße
Sebastian
Lieber Sebastian,
die Bilder, die von der ISS aus aufgenommen wurden, findest du auf dem Flickr-Profil von Alexander und dem der ESA.
https://www.flickr.com/photos/astro_alex/
https://www.flickr.com/photos/europeanspaceagency
Die Quelle wäre: ESA/NASA-A.Gerst.
Liebe Grüße
Hi Jana,
darf ich die Bilder dann mit der Quellennennung in unseren Artikel posten? Dieser ist nicht kommerziell und nicht gesponsert, würde also nicht gegen die AGB der ESA zur Verwendung der Bilder verstoßen.
LG Sebastian
Hi Jana,
also kann ich die Bilder mit Angabe der Quelle ruhig im Blog verwenden (der Beitrag ist nicht kommerziell).
Oder gibt es vielleicht doch die Möglichkeit von Alex ein Bild für unseren Blog mit der Aurora zu erhalten?
Lg Sebastian
Very nice blog . I like that you share your work experiences and your views on life with us.
If more people saw the world as you do and worked together for the benefit of all then there would not be people in this world that have to go hungry or suffer.
Hallo Herr Gerst,
Eines haben Sie vor allem durch die wunderbaren Bilder aus dem All erreicht. Sie haben bei mir als junge Erwachsene eine Sehnsucht nach dem „hinter-dem-Horizont“ entdecken und Stolz auf unseren Planeten bewirkt.
Mein Herz schlägt schneller, wenn ich eine Nachricht bekommen, dass Sie wieder ein neues Foto auf Twitter veröffentlicht haben.
Es wird ein unerreichbaren Traum sein, selber ins All zu fliegen aber die genialen Bilder geben etwas davon zurück.
Sie inspirieren die Jugend an sich zu arbeiten und auf die Welt zu achten, denn, wie man in jedem Ihrer Bilder sieht, ist die Welt wunderschön und wir wollen hier noch lange in Frieden leben könne
Lieber Alex, ja ich schlucke noch ….. so tief haben mich Deine Worte, gerade heute, einen Tag vor Deiner neuen großen Aufgabe, berührt …
Mein Enkel trägt Deinen Namen – ich bin so stolz auf ihn und auf Dich …
Wie schön Du Deine momentane Situation und Motivation in Worte gefasst hast (danke in Deutsch! Ich mag Dein Englisch, es ist ausgezeichnet … aber all die feinen Nuancen, die Du sagen wolltest, habe ich so viel besser verstanden) …
Ganz viel Glück und Erfolg, Commander Alex Gerst!
Du wirst von einer inzwischen riesigen Fangemeinde rund um die Erde geliebt und voller Sympathie und Dank in diesen neuen Abschnitt getragen – möge Dir diese wundervolle Energie Kraft geben – für den ganz normalen Stationsalltag, aber und insbesondere auch in Ausnahmesituationen!!
Lieber Alex.
Ich bin durch die Sendung mit der Maus auf dich und deine Beiträge gestoßen. Auch im Namen meiner Kinder: Vielen Dank dass du uns so vielfältig (Facebook, Blogs, die Maus) an deinem Abenteuer teilhaben lässt. Durch dich sehen wir die Welt im neuen Licht.
Viele Grüße und weiterhin alles Gute,
Tobias Harmes
Da fliegen wir nun mit unserem Raumschiff Erde durch ein absolut lebensfeindliches Universum und tun dabei so als ob uns das All(es) da draußen nicht zu interessieren braucht. Als ob sich nur Träumer und Spinner damit beschäftigen und dabei geht es allen wie Alexander Gerst. Ist unser Raumschiff aus dem Gleichgewicht dann droht Gefahr. Viel Schlimmer es gibt für uns keine Rettungskapsel und keinen Raumanzug der unser Überleben sichern könnte. Viele Menschen haben Angst vor der Veränderung, dem Wandel. Doch es hilft nichts, unsere einzige Chance ist der gegenseitige Respekt, das Zusammenarbeiten beim lösen der Probleme.
Vielen Dank für Ihren Bericht.
Meinen herzlichsten Dank für Ihren sehr authentischen Beitrag. Ganz viel Glück und Erfolg und viel Kraft für alles alles, Commander Alexander Gerst!
Wunderbar geschrieben . Wenn immer keine Wolken am Himmel sind, verfolge ich kurz die ISS. Sie alle da oben leisten viel für die Menschheit und die Welt. Meine Hochachtung und HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH dazu. Heide
Respekt!
Menschen wie Sie braucht es deutlich mehr auf diesem Planeten.
Ich ziehe den Hut vor Ihnen!
Hallo Herr Gerst,
vielen Dank für den interessanten Beitrag. Eine Frage habe ich zu dem Leck an der Außenwand, welches als erstes mit dem Finger verschlossen wurde. Laut Wikipedia sind bei Euch dort oben Temperaturen um die +/- 100 Grad. Wurde hier ein „günstiger“ Zeitpunkt gewählt, oder wurde ein entsprechendes Material (Handschuh ?) verwendet ? Und wie verhält es sich mit dem Vakuum ? Der Gedanke kam mir spontan, kann sein, dass ich ganz daneben liege ;-)
Heute Abend ab 19:39 Uhr kommt Ihr wieder „bei uns vorbei“, wenn keine Wolken sind, dann schau ich wieder hoch zu Euch.
Schönen Gruß aus Wesseling am Rhein
Reinhard
Wow. Schöne Worte, Bilder und Taten. Weiterhin viel Erfolg.
Hallo Alex, war echt erschrocken und zugleich beeindruckt, als ich noch dem Vorfall las, ich hoffe, ich könnt eure Mission ohne solch‘ Zwischenfälle abschließen und freue mich, wenn ihr gesund auf der Erde gelandet seid. Alex… Hut ab vor deiner Gelassenheit, deiner Kompetenz, deinem Humor, den Du da oben nicht verlierst, deiner Sensibilität, deinem ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn, deiner Menschlichkeit. Du bist ein einzigartiger Mensch, ein klasse Überflieger :-). Super gerne würde ich, nach dem du gelandet bist, an einer deiner Veranstaltungen teilnehmen. Wie, wo, kann ich mich informieren, wann was wo stattfindet. Habe selbst ein Projekt: Thema Welt, Umwelt, (Orbit) Liebe. Ich weiß nicht, wer das hier liest…ich würde mich riesig über eine Antwort freuen (E-Mail). Euch, dir …Alex viel Erfolg noch bis zum Start von dort und danke für die tollen sensationellen Aufnahmen. DANKE!!!
Danke für die tollen Einblicke …. Weiterhin viel Spass und Erfolg …
Sehr schöner Text und großartige Worte! Ich wünsche mir, dass dadurch viele (junge) Menschen inspiriert werden, ebenfalls so zu denken.
Eine Frage hätte ich allerdings: Im Blog steht, dass der Druck durch das Leck glücklicherweise so langsam gefallen ist, dass die Luftreserven noch vier Tage lang gereicht hätten. Wie läuft das denn mit der Luft genau auf der ISS? Jetzt, wo das Leck gestopft ist, woher kommt denn diese Luft? Wir diese wiederverwendet bzw. aufbereitet? Was ist die Vorgehensweise, wenn die Luft tatsächlich knapp werden würde?
Für die Antwort schon mal vielen Dank im Voraus!